News der Nassauischen Neue PresseLimburg. Der 20. Juli 2010 wird ein Tag bleiben, der im Limburger Stadtteil Dietkirchen nie vergessen wird: Ein Feuer auf einem Bauernhof am Ortsrand breitet sich so rasend schnell aus, dass die Rettungskräfte keine Chance haben und sechs Menschen sterben ...


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Verwendung der Artikel der Nassauischen Neuen Presse mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Societäts-Druckerei.


Vor einem Jahr starben die fünfköpfige Familie Gotthardt und ein Erntehelfer bei einem Brand in Dietkirchen

Von Johannes Laubach
Der Tisch der Erinnerungen im Wohnzimmer von Irmgard und Josef Gotthardt: Vor den Fotos der Enkelkinder ein Engel und eine Kerze, die fast immer brennt. Foto: Laubach/dpaBild: Der Tisch der Erinnerungen im Wohnzimmer von Irmgard und Josef Gotthardt: Vor den Fotos der Enkelkinder ein Engel und eine Kerze, die fast immer brennt. Foto: Laubach/dpa

Der Tisch der Erinnerungen im Wohnzimmer von Irmgard und Josef Gotthardt: Vor den Fotos der Enkelkinder ein Engel und eine Kerze, die fast immer brennt. Foto: Laubach/dpaDer Tisch der Erinnerungen im Wohnzimmer von Irmgard und Josef Gotthardt: Vor den Fotos der Enkelkinder ein Engel und eine Kerze, die fast immer brennt. Foto: Laubach/dpa"Es kommen schwere Tage auf uns zu", sagt Josef Gotthardt. Er sitzt im Wohnzimmer am Tisch. Neben ihm seine Frau Irmgard, schmächtig. Sie sitzt im Rollstuhl. Seit 60 Jahren sind sie verheiratet, beide über 80 Jahre alt. Die Wand hinter ihnen ist voller Bilder. Sie zeigen Kinder und Erwachsene. Einige Schwarzweißaufnahmen sind darunter. Als ihr Sohn Paul-Josef ein Kind war, da sind ganz selten Farbfotos gemacht worden. Auch die Hochzeit von Paul-Josef und Maria gibt es in Schwarzweiß. Und dann sind da noch Fotos von den Enkeln Nicole, Michael und Regina. Sie lachen, schauen überrascht in die Kamera. Bilder auch auf dem Wohnzimmertisch, dazwischen Kerzen. Erinnerungen. Alle sind sie tot. Alle auf einmal gestorben. In einer Nacht. Am 20. Juli. Vor einem Jahr . . .

Jeden Tag auf dem Friedhof

"Wir gehen jeden Tag auf den Friedhof", sagen die Gotthardts. Die Stimme stockt. Und dann sagt er schnell: "Ohne Glauben würden wir das nicht aushalten." Der Glaube als Tröster? Seine Frau Irmgard hat auch einen Trost: "Jeder Tag bringt uns näher an unsere Kinder." Auf dem Friedhof wünschen sie allen eine gute Nacht.

Bis zur Nacht, als das Feuer kam und den Tod brachte, lebte die Familie in dem Limburger Stadtteil Dietkirchen in einem großen Verband unter einem Dach. Josef und seine Frau Irmgard, der Sohn mit seiner Frau, die drei Enkel im Alter zwischen 18 und 35 Jahren; Otto Bednarska, der Helfer, und die beiden Polen Günter Albrecht und Krzysztof Jakimowicz, ohne deren Hilfe die Bewirtschaftung des Hofs nicht möglich ist und die sich über Jahre dabei abwechseln.

Das Haus, in dem es brannte, haben die beiden 81-Jährigen verlassen. Sie wohnen jetzt gegenüber. "Wir sind allein", sagt Josef Gotthardt. Er war das Familienoberhaupt, der Patriarch, ein Mann, dessen Wort etwas galt – nicht nur in der Familie und auf dem Hof, auch in der Limburger Politik, im Vereinsgeschehen, bei den Anglern. Der Sohn ist tot, die Schwiegertochter und die drei Enkel auch. Der Brand auf dem Hof forderte noch ein sechstes Opfer: den 48 Jahre alten Günter Albrecht.

Während die Familie Gotthardt in ihren Zimmern erstickte, versuchte sich der Erntehelfer aus dem Dachgeschoss zu retten. Er stürzte ab und erlag seinen Verletzungen. Krzysztof Jakimowicz nutzte den am Haus hoch wachsenden Efeu. Über ihn kletterte er nach unten. Und auch Otto Bednarska, der im Keller wohnte, überlebte den Brand. Aber er überlebte den Krebs nicht, der sich ganz offensichtlich nach dem Unglück im Körper ausbreitete. Auch er hat seine letzte Ruhe dort gefunden, wo die Gotthards beerdigt sind. "Er hat über 30 Jahre bei uns gelebt, er gehörte zur Familie", sagt Josef Gotthardt.

Zur Familie gehören, das geht über den Tod hinaus . . .

Viele Erinnerungen

Das verbrannte Haus ist inzwischen neu aufgebaut. Nur die wenigsten werden bemerken, dass es ein Stockwerk weniger als zuvor hat. Selbst das Bild des "Burghofs" ziert die neue Fassade. Fast wie früher.

Die Fassade ist wieder hergestellt. Doch dahinter gibt es Tausende von Erinnerungen an die, die nicht mehr da sind. "Wir haben gerade die Wintergerste abgemacht", erzählt Gotthardt. Am 19. Juli vergangenen Jahres haben sie auch Wintergerste geerntet. Um halb Zwölf unterhielten sich der Senior und sein Sohn noch über die Ernte, die überraschend gut ausgefallen war. Eine Stunde später war der Sohn tot – nicht nur er.

"Die Maria hat zum Dorf gehört", sagt Bernhard Eufinger. Er ist Ortsvorsteher in dem Limburger Stadtteil und hat viel an Hilfe nach dem Brand organisiert. Wenn Maria mit Eiern oder Kartoffeln im Ort unterwegs war, um sie auszuliefern, wurde sie fast immer von Nicole begleitet. Die Älteste war eine wichtige Hilfe auf dem Hof. "Und sie hat immer gewunken", erinnert sich Eufinger. Ihr Bruder Michael war der Verteidiger des Traktors. Niemand durfte auf Opas Traktor, wenn Michael in der Nähe war. Dann gab es Ärger. Und Regina, die Jüngste und die "Prinzessin", hatte sowieso alle im Griff.

"Der Schmerz lässt nach. Das stimmt nicht. Es wird immer schlimmer, der Schmerz wird immer mehr", sagt Irmgard Gotthardt. Ihr Mann kann aufs Feld, sich auf den Traktor setzen, er muss seit dem Tod seines Sohnes sogar wieder mehr ran, sie hat das Haus. Das war der Ort der Familie, die nicht mehr ist. Viele Gespräche hat sie mit Sylvia Zernig, der Gemeindereferentin der katholischen Gemeinde St. Lubentius geführt. "Es ist auch hilfreich, mit Gott zu hadern", sagt sie.

"Wo warst Du, lieber Gott?", fragte das Ehepaar Gotthardt in ihrer Todesanzeige. Die Frage bleibt. "Einfach hingehen, da sein, sprechen, zuhören", das ist für Sylvia Zernig die Hilfe, die gebraucht wird. Und es gibt da natürlich auch etwas zwischen Himmel und Erde, das sich nicht so einfach greifen lässt. "Fürchtet euch nicht", ruft der Engel auf dem Grabstein der Familie. Wer an die Auferstehung glaubt, braucht sich nicht zu fürchten. Auch die nicht, für die das Leben auf der Erde nach einem solchen Unglück weitergeht.

Es gibt viele Beispiele des Beistands und der Begleitung, die Gotthardts in all ihrem Leid auch erfahren durften. "Wir haben Briefe und Anteilnahme aus ganz Deutschland erhalten", sagt Josef Gotthardt. Und sie haben viel über ihren Sohn erfahren, einen stillen und in sich gekehrten Mann, das ihnen vorher unbekannt war. Wie erfolgreich er Tischtennis gespielt hat zum Beispiel oder wie groß sein Freundes- und Bekanntenkreis war, der weit über den Ort hinaus ging.

Die Oudenburger aus der belgischen Partnergemeinde Dietkirchens haben Anteil genommen. Das Ehepaar bekommt auf dem "Burghof" immer noch viel Besuch. "Das reißt nicht ab", bemerkt die Gemeindereferentin. Und dann natürlich die Unterstützung aus dem Dorf und dem Freundeskreis.

"Ich bin stolz, ein Dickerischer zu sein", sagt Gotthardt. Für Eufinger ist die Hilfe, die Begleitung und Anteilnahme aber auch eine Möglichkeit, der Familie etwas von dem zurückzugeben, was sie zuvor der Gemeinschaft oder auch Einzelnen gegenüber eingebracht hat.

Es gibt viele neue Erfahrungen für die Gotthardts. Zum Beispiel die aufrichtige und herzliche Anteilnahme vieler türkischer Familien aus Dehrn, die von der Schwiegertochter Maria mit Erzeugnissen vom Hof beliefert wurden. Oder das Ehepaar aus Villmar, das mit Gotthardts Heiligabend und Silvester verbracht hat – Freunde ihres Sohnes Paul-Josef. Der ehemalige Landrat Dr. Manfred Fluck, der regelmäßig zu Besuch kommt und angeboten hat, in allen rechtlichen Fragen zur Seite zu stehen. Es sind viele helfende Hände, unter anderem von der Hausärztin, die nicht eher ruhte, bis Irmgard wieder richtig Nahrung zu sich nahm.

Doch die Hilfe gilt auch denen, die mit Günter Albrecht ihren Ehemann und Vater verlorenen haben. Die Dietkirchener riefen eine Spendenaktion ins Leben und mit Hilfe einiger Sponsoren sind über 14000 Euro zusammen gekommen. Das Geld, so berichtet Bernhard Eufinger, wird zur Unterstützung der Hinterbliebenen von Günter Albrecht eingesetzt, die im östlichen Polen leben. Jeden Monat gibt es einen bestimmten Betrag, bis die Summe aufgebraucht ist.

Unterstützung ganz anderer Art gab es für die Einsatzkräfte der Feuerwehr und Rettungsdienste. Die Feuerwehrleute aus Dietkirchen waren am schnellsten am Einsatzort, wurden aber aus der ersten Reihe zurückgezogen, als das Ausmaß der Katastrophe deutlich wurde. Die Notfallseelsorge, so deren Vorsitzende Hedi Sehr, hatte wenige Tage nach dem Brand zu einem Treffen eingeladen. "Wir rufen dabei die Situation vor der Alarmierung in Erinnerung, wir wollen ganz bewusst an die Normalität anknüpfen", sagt Hedi Sehr.

Die Katzen sind zurückgekehrt

Das Schlimme nicht verhindern zu können, das gilt es zu begreifen, in sich aufzunehmen. Und auch der richtige Umgang mit den schrecklichen Bildern des Einsatzes, die immer wieder in der Erinnerung auftauchen können, gilt es zu lernen. Oder es ist plötzlich Brandgeruch in der Nase, obwohl weit und breit kein Feuer ist. "Die Bilder zulassen, sie gehören zu einem", sagt die Vorsitzende. Wenn dies allein nicht möglich ist, dann eben mit Hilfe.

Heute, Mittwoch, findet um 19 Uhr in der Lubentiuskirche ein Gedenkgottesdienst statt, am Sonntag ist um 10 Uhr das Jahresamt. Ein Jahr ist vorbei. Ein Jahr mit allen Geburtstagen, mit allen Festen. Für Gotthardts wird die Zeit der Trauer erst enden, wenn sie bei ihren Kindern sind. Aber das Leben geht weiter. Vielleicht sind die Katzen des "Burghofs" ein Beispiel dafür. In der Nacht des Brands sind sie alle vom Hof verschwunden und der Brandgeruch hat sie lange zurückgehalten.

Die Katzen sind in das Haus der Gotthardts zurückgekehrt. (jl)

Artikel vom 19. Juli 2011, 21.28 Uhr (letzte Änderung 21. Juli 2011, 04.05 Uhr)

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